Nachdenken: Was heißt Gebundensein?
Unabhängigkeit wird in der Regel als ein hohes Gut angesehen. Sie wird gleichgesetzt mit Freiheit und Selbstbestimmung. Gebundensein dagegen klingt nicht so einladend. Wer will das schon sein?
Aber wie frei und unabhängig sind wir Menschen wirklich? Das Coronavirus zeigt uns neu unsere Verletzlichkeit und unsere Abhängigkeit von anderen Menschen und von der Mitschöpfung – im Guten wie im Schlechten.
Gebunden, verbunden – was bedeutet das? Als Geschöpfe sind wir nicht nur mit Gott und allen Mitgeschöpfen verbunden, sondern auch an sie gebunden. Wenn wir das ernst nehmen, dann ändert das viel. Die Schöpfung können wir nicht länger als ein Objekt betrachten, das wir meinen, beherrschen, verderben oder retten zu können. Damit überschätzen wir uns im Guten wie im Schlechten. „Nicht uns ist die Erde anvertraut, sondern wir sind der Erde anvertraut. Die Erde kann ohne uns Menschen leben und hat es Millionen von Jahren getan, aber wir können nicht ohne die Erde leben“ (Jürgen Moltmann). Nach biblischem Zeugnis trägt und ernährt uns die Erde (1. Mose 1). Sie ist unsere Mutter (Sir 40,1), sie hat Rechte und Anteil an der Sabbatruhe (3. Mose 25,4). Sie sehnt sich nach Erlösung (Röm 5). Nicht nur mit dem Menschen, sondern auch mit der Erde schließt Gott einen Bund (1. Mose 9,1). Auch die Erde hat also eine Gottesbeziehung.
Für mich bedeutet das, demütiger zu werden – auch gegenüber der Erde, die mich trägt und bis heute ernährt. Ich sage deshalb nicht mehr „Bewahrung der Schöpfung“, sondern „Achtsamkeit gegenüber der Mitschöpfung“. Und wir sind als Geschöpfe auch mit Gott verbunden, von seiner Schöpferkraft und Güte abhängig. An ihn gebunden, mit ihm verbunden. Auch das vergessen wir oft und meinen, wir brauchen weder den Schöpfer noch die Mitgeschöpfe. Das schneidet uns ab vom Faden des Lebendigen.
Aber Gott überlässt uns nicht uns selbst. Er hält fest an seinem ewigen Bund mit den Menschen und der Erde. Der Bogen in den Wolken ist das Zeichen.
Autorin: Dr. Ruth Gütter
Oberkirchenrätin Dr. Ruth Gütter ist Theologin und seit fast vier Jahren Referentin für Nachhaltigkeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie ist Pfarrerin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EEKW) und war in unterschiedlichen Funktionen in der EKKW und der EKD für entwicklungspolitische, ökumenische und diakonische Fragen zuständig. Als Referentin für Nachhaltigkeit arbeitet sie an theologisch-ethischen Grundsatzfragen der Nachhaltigkeit. Seit 2018 vertritt sie die Kirchen in einer von der Bundesregierung eingerichteten Dialoggruppe zur Begleitung der deutschen Nachhaltigkeitspolitik.